Die magische Welt der Wahlprognosen

Wahlprognosen

Von den aktuellen prognostischen Disziplinen zählt die Wahlforschung wohl zu den populärsten. Sie basiert auf der Annahme, dass man aus der Befragung von ein paartausend Menschen auf die Meinung von Millionen Menschen schliessen kann. Diese Prämisse wird seit Generationen an Schulen und Universitäten tradiert. Doch inwieweit ist der „repräsentative Querschnitt“ ein modernes Götzenbild, eine moderne Zeitgeistmaske der magischen Analogie von Makrokosmos und Mikrokosmos?

Strohwahlen im US-Wahlkampf

Da Wahlen im Grunde nichts anderes sind als Befragungen, sind sie für Meinungsumfragen besonders prädestiniert. Während die Ergebnisse von Kundenbefragungen und den meisten anderen Meinungsumfragen nicht direkt auf ihre Richtigkeit hin überprüfbar sind, lässt sich bei Wahlprognosen exakt feststellen, inwieweit sie ins Schwarze getroffen haben. So hat man bereits früh begonnen, die Ergebnisse von politischen Wahlen durch „Strohwahlen“ vorwegnehmen zu wollen. Eine der ersten „Straw Votes“ wurde von der Zeitung „Harrisburg Pennsylvanian“ zur Präsidentenwahl 1824 durchgeführt. Aufgrund der schlechten Verkehrs- und Kommunikationswege waren die ersten Versuche jedoch stark lokal begrenzt. So waren die Ergebnisse auch kaum besser als durch schlichtes Raten.

Erst in den 1920er Jahren änderte sich diese Situation. Damals war es in Amerika sehr populär, Wahlwetten über die richtigen Prozentziffern der Republikaner und Demokraten abzuschließen. So witterte die Presse eine einträgliche Chance, ihre Verkäufe durch Wahlprognosen anzukurbeln. Da in einer Demokratie jede Stimme gleich viel zählt, dachte man, dass die Prognose umso exakter werden würde, je mehr Menschen man befragt. So versandte beispielsweise die Monatszeitschrift „Literary Digest“ vor jeder Wahl Millionen von Postkarten und stützte ihre Prognosen auf hunderttausende Rückantworten. Derartige Massenstrohwahlen konnten teilweise auch gute Erfolge aufweisen. So war die Vorhersage für die Präsidentenwahl von 1932 auf ein Prozent exakt. Doch es gab auch Wahlen, bei denen die Massenstrohwahlen komplett versagten. Ein Grund dafür war, dass bei derartigen Vorerhebungen der Mittelstand überrepräsentiert war, während die Unterschicht nur unzureichend erfasst werden konnte. So wurden die konservativen Kandidaten tendenziell überschätzt.

Die Wahlprognosen von Gallup

Die Präsidentschaftswahlen zwischen Landon und Roosevelt im November 1936 brachten für die Wahlforschung eine entscheidende Wende. Der junge amerikanische Journalist George Gallup behauptete, mittels Befragung von nur wenigen tausend Menschen bessere Ergebnisse erzielen zu können als der „Literary Digest“ mit hunderttausenden Befragten. Es käme nicht auf die Masse der Befragten an, sondern vielmehr auf deren gezielte Auswahl. Es gelang ihm, 35 Zeitschriften zusammentrommeln, welche ihn bei diesem Vorhaben finanziell unterstützten. Er verpflichtete sich sogar dazu, sämtliche Kostenbeiträge rückzuerstatten, sollte sein Ergebnis schlechter ausfallen als jenes des „Literary Digest“. Dieser nahm die Herausforderung an und sammelte bis zur Wahl ganze zwei Millionen Antworten. Dennoch wich das prognostizierte Ergebnis um katastrophale 19 % vom tatsächlichen Ergebnis ab. Zudem sagte der „Literary Digest“ den Sieg des Republikaners Landon voraus. Tatsächlich wurde jedoch überraschend Franklin D. Roosevelt wiedergewählt. Gallup war einer der ganz wenigen, der diesen Ausgang mit seiner neuen Methode richtig prognostiziert hatte. Über Nacht wurde er damit zum gefeierten Propheten. Sein Name wurde zum Synonym einer neuen Wissenschaft der sozialen Prognostik. Sein „American Institute of Public Opinion“ wurde mit Aufträgen überschüttet. Auch in Europa schossen Gallup-Institute aus dem Boden. Zwar hatte die Methode Gallup in den Folgejahren zahlreiche gravierende Fehlprognosen zu verzeichnen, teilweise mit Abweichungen von bis zu 15 % zum tatsächlichen Ergebnis. Doch der Mythos war nicht mehr aufzuhalten.

Gallup hatte gezeigt, dass die geschickte Befragung von einigen hundert oder tausend Menschen bessere Ergebnisse bringen kann als das mit enormem Aufwand verbundene wahllose Befragen hunderttausender Menschen. Doch worin bestand nun die Besonderheit seines Systems? Im Gegensatz zu früheren Ansätzen sah er die Wähler nicht als einheitliche Masse an, sondern teilte sie in verschiedene Schichten. Er ging von der Beobachtung aus, dass etwa Industriearbeiter aus dem Norden zu einem anderen Wahlverhalten tendieren als beispielsweise Farmer im Süden. So wählte er die Befragten bewusst aus nach ihrer Zugehörigkeit zu speziellen demographischen Gruppen. Er berücksichtigte beim Zusammenstellen seiner Samples Faktoren wie Alter, Geschlecht, Einkommensgruppen, Größe des Wohnorts oder auch den Bundesstaat. Dadurch versuchte er, ein möglichst genaues Miniaturbild der gesamten Wählerschaft zu erhalten. Die genaue Zusammenstellung und Gewichtung dieser Faktoren variierte je nach Aufgabenstellung. Erfolgsentscheidend bei der Segmentierung sind fundierte Kenntnisse über die speziellen Eigenarten der lokalen Bevölkerung.[i]

Auch wenn das Gallup-System längst nicht mehr wie einst als die Wunderwaffe schlechthin betrachtet wird, ist es nach wie vor die Grundlage der modernen Wahlprognostik. Zum einen liegt dies daran, dass es mit verhältnismäßig geringen Mitteln gute Näherungswerte verschaffen kann. Zum anderen gibt es nach wie vor keine ernsthaften Alternativen dazu. Dennoch haben gerade die letzten Jahre trotz verfeinerter Methoden und Computerhilfe den Wahlprognostikern das Leben schwer gemacht. Genaue Treffer sind eher die Ausnahme als die Regel. Die Wähler sind unberechenbar geworden. Sie entscheiden immer spontaner, wen sie wählen. Sie sind launisch, sagen morgens etwas anderes als mittags oder abends. Es gibt immer mehr Wechselwähler. So lauten herkömmliche Begründungen dafür. Bei der Masse an Wahlforschern und Prognosen gibt es natürlich immer jemanden, der einigermaßen Recht hat. Doch von durchgehend hohen Trefferquoten können die meisten Institute nur träumen. Aus dem Medienspektakel rund um Wahlen sind sie dennoch nicht mehr wegzudenken. Sie sind zur festen Institution des Entertainments geworden.

Repräsentative Segmentierung und magisches Analogiedenken

Liegt das zunehmende Versagen der Wahlprognostik daran, dass sich immer mehr Wähler kurzfristig umentscheiden und somit Tage zuvor durchgeführte Umfragen bereits am Wahltag veraltet sind? Funktionieren sie nur in einer stabilen Umwelt mit stabilen Wählern? Verunmöglicht die moderne Individualgesellschaft mit ihren unzähligen Unter-, Neben- und Parallelschichten jegliche repräsentative Segmentierung? Oder ist es am Ende überhaupt eine Illusion, dass man das Wähler-Ganze messen könnte anhand eines kleinen Teilausschnitts? Ist der „repräsentative Querschnitt“ nur ein Hirngespinst? Ist das Segmentieren und Modellieren der Wählermasse nichts anderes als das weltfremde Konstruieren von Marktmechanismen der Ökonomen? Denn ebenso wie die Modelle der Volkswirtschaftler zu guter Letzt auf Schätzungen und Spekulationen angewiesen sind, hängen die Ergebnisse der Wahlforscher entscheidend von der Gewichtung der Daten ab. Diese „Gewichtungskunst“ kann aus dem gesammelten Datenmaterial der Umfragen nahezu alles machen. Was als exakte quantitative Messung verkauft wird ist somit nichts anderes als subjektive Spekulation. Wahlforschungskritiker wie der Wuppertaler Statistik-Professor Fritz Ulmer sprechen sogar von „Zahlenprostitution“.[ii] Liest man Wahlprognosen genauer, so wird zumeist von den Wahlforschern selbst eine Fehlermarge von 3-5 % eingeräumt. Eine Prognose von 45 % für Partei X und 39 % für Partei Y bedeutet also in Wirklichkeit absurde Bandbreiten von 40-50 % für Partei X und 34-44 % für Partei Y. Das Fortschreiben des vorigen Wahlergebnis verknüpft mit politisch interessiertem Raten wird in den meisten Fällen wohl auf ähnlich „genaue“ Vorhersagen kommen.

Betrachtet man das Konstruieren eines „repräsentativen Querschnitts“, das Modellieren von Wählersegmenten genauer, so weist diese Herangehensweise eine große Ähnlichkeit auf mit dem magischen Prinzip einer Entsprechung von Makrokosmos und Mikrokosmos.[iii] Das Ganze spiegelt sich in seinen Teilen. Die Teile offenbaren das Ganze. Der Gang der Planeten am Himmel spiegelt sich im Gang der menschlichen Geschicke auf Erden. Das Schicksal des Königs symbolisiert das Schicksal des Volkes. Beim bereits erwähnten germanischen Kampforakel[iv] hat man aus dem Ergebnis eines Duells zwischen einem eigenen Krieger und dem Krieger des feindlichen Stammes das Ergebnis der kommenden Schlacht vorhergesagt. Das wird vielen Menschen absurd erscheinen. Nicht viel besser sähe es aus, würde man anstatt jeweils einem Kämpfer „repräsentative Querschnitte“ der beiden Kriegerhorden gegeneinander antreten lassen. Es würde wohl niemand ernsthaft auf die Idee kommen, derartige „Strohschlachten“ zu veranstalten. Doch nichts anderes macht die moderne Wahlprognostik. Sie nimmt an, dass die Befragung von tausend Wählern die Befragung aller Millionen von Wählern widerspiegelt. Wie beim germanischen Kampforakel werden Ergebnisse eines kleinen Ausschnitts mit der Gesamtheit in Analogie gesetzt. Auch wenn zur Erklärung einer derartigen Korrespondenz heutzutage keine Götter oder höhere Geister mehr herangezogen werden, bleibt das Grundprinzip dasselbe. Am Ende ist der „repräsentative Querschnitt“ nicht weniger metaphysisch als die magische Analogie zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos.

FUSSNOTEN
[i] Morus (1958), S. 168ff
[ii] Ulmer (2000), S. 8ff
[iii] siehe Niederwieser (2016), S. 22f
[iv] siehe Niederwieser (2016), S. 137

LITERATUR

Morus (1958) Die Enthüllung der Zukunft: Prophetie – Prognose – Planung von Babylon bis Wall Street, Hamburg: Rowohlt Verlag

Niederwieser, Christof (2016) Prognostik 02: Zeichendeutung, Trossingen: Zukunftsverlag

Ulmer, Fritz (2000) Wahlprognosen sind Täuschung in Schleswig-Holsteinische Landeszeitung vom 26. Februar 2000, S. 8, Flensburg: sh:z Zeitungsverlag

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Niederwieser, Christof (2016) Prognostik 02: Zeichendeutung, Trossingen: Zukunftsverlag, S. 185ff

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