Aus China ist der Brauch bekannt, für Träume zu beten (qimeng). Menschen, die sich in einer schwierigen Situation befinden, suchen dazu einen Tempel auf. Dort zünden sie Kerzen und Weihrauch an und bitten die angebetete Gottheit um einen Traum, welcher ihr Anliegen erhellt. Oft legen sie sich nach langem Gebet vor das Götzenbild und schlafen ein, um im unmittelbaren Angesicht der Gottheit den Traum zu erlangen. Danach ist es üblich, mit Hilfe von Wahrsageklötzen zu verifizieren, ob der Traum tatsächlich gottgesandt war oder lediglich der wilden Phantasie entsprungen ist.
Auch in China unterscheidet man Offenbarungsträume, welche direkt Information über die Zukunft geben, und Träume, die man erst symbolisch entschlüsseln muss. Dazu gesellt sich jedoch noch eine chinesische Eigenart, die Wortanalyse. Bei dieser werden nicht die Traumsymbole selbst, sondern deren chinesische Schriftzeichen analysiert. Dabei kann oft eine gänzlich andere Bedeutung zutage treten, als der Traum ursprünglich suggeriert hat. So wird von einem hohen Beamten des Kaisers Kangxi (1654 – 1722) berichtet, der wissen wollte, ob er jemals Söhne haben würde. Er begab sich dazu in den Guandi-Tempel außerhalb Pekings. Dort träumte er, dass ihm Guandi einen Bambusstab ohne Blätter und Zweige überreichte. Er war sehr traurig, denn er deutete dies als Omen, dass er niemals einen Nachfolger haben werde. Doch ein Traumdeuter klärte ihn auf. Der Bambus (zhu) würde für zwei Söhne stehen, denn das Schriftzeichen für „zhu“ musste nach den Regeln der Wortanalyse zweigeteilt werden. Dadurch erhielt man zweimal das Zeichen „ge“, was in diesem speziellen Fall für die zwei Söhne stehen würde.
Man sieht, dass Traumdeutung bei den Chinesen keine einfache Sache war. Wie kaum ein anderes Volk verstanden sie es, daraus eine komplexe Wissenschaft zu machen. So musste bei der Traumentschlüsselung auch der Charakter des Träumers und sein gesamter Kontext berücksichtigt werden. Und selbst für ein und denselben Menschen konnte ein Symbol zu verschiedenen Zeiten verschiedene Bedeutungen haben. Eine bekannte Anekdote erzählt von Zhou Xuan, einem berühmten Traumspezialisten aus der Zeit der Drei Königreiche (220 – 280 n. Chr.). In dieser träumt ein Mann drei Mal von Strohhunden, und jedes Mal gibt Xuan ihm eine vollkommen andere Deutung. Als er darauf angesprochen wird erklärt er:
„Strohhunde sind Opfer an die Götter. Insofern bedeutete Dein erster Traum, dass Du Essen und Trinken bekommen würdest. Wenn die Opferung vorüber ist, dann werden Strohhunde unter einem Rad zermalmt. Folglich prophezeite Dein zweiter Traum Deinen Sturz vom Wagen und Deine gebrochenen Füße. Wenn die Strohhunde zermalmt sind, so werden sie als Brennholz weggebracht. Darum warnte Dich Dein letzter Traum vor Feuer.“
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Niederwieser, Christof (2015) Prognostik 01: Zukunftsvisionen, Norderstedt: BoD – Books on Demand, S. 54f
Haben Sie zufällig weitergehende Literaturempfehlungen für das Thema „Chinesische Traumdeutung“? Ich bin bislang (vor allem auf Deutsch) nicht wirklich fündig geworden.
Zur Traumdeutung in Asien gibt es in Deutsch leider kaum Veröffentlichungen, sodass ich für dieses Kapitel vor allem englische Literatur verwendet habe, u.a.:
Cauquelin, Josiane (2004) The Aborigines of Taiwan – The Puyuma: from Headhunting to the Modern World, London: RoutledgeCurzon
Wales, Quaritch (1983) Divination in Thailand, London: Curzon Press
Speziell für China ist folgendes Buch empfehlenswert und enthält auch einen ausführlichen Teil über Traumdeutung:
Smith, Richard J. (1991) Fortune-tellers and Philosophers – Divination in Traditional Chinese Society, Boulder: Westview Press
Viel Vergnügen beim Schmökern!
Dr. Christof Niederwieser