Genetik und Biochemie sind die aktuellen Paradigmen, unter deren Deckmantel die Physiognomik im beginnenden 21. Jahrhundert wiederaufersteht. Dabei beschränken sich die neuen Ansätze nicht auf die prognostisch-diagnostische Verzeichenung des Gen-Codes, sondern widmen sich wieder eingehend der Körperschau, insbesondere der Handlesekunst.
So ließ ein Forscherteam der Universität Berkeley im Jahr 2000 mit einer neo-chirologischen Forschungsarbeit aufhorchen. In der Zeitschrift „Nature“ veröffentlichte die Gruppe um den Psychologen Marc Breedlove ihre Resultate, wonach die Fingerlänge Auskunft über die sexuellen Neigungen von Menschen gibt. Die Untersuchung von 720 Freiwilligen ergab, dass bei heterosexuellen Frauen der Zeigefinger der rechten Hand länger ist als der Ringfinger, während er bei Lesben im Durchschnitt kürzer ist. Auch bei homosexuellen Männern fand sich dieser Effekt, wenngleich auch weniger stark ausgeprägt und nur dann, wenn sie mehrere ältere Brüder hatten. Erklärt wurde dieser Zusammenhang mit einem Überschuss an männlichen Hormonen im Mutterleib, mit einer erhöhten Konzentration von Androgenen im Fruchtwasser, welche die relative Länge der Finger bestimmt. Sowohl Lesben, als auch Schwule wären somit im Schnitt „männlicher“ als Heterosexuelle. Breedlove räumt jedoch ein, dass dieser Zusammenhang lediglich ein statistischer ist und nicht für jedes Individuum gelten würde.[i]
Mittlerweile sind die Ringfinger-Mantie und die Fruchtwasserhormonspiegel-Theorie unter dem Schlagwort „2nd to 4th digit ratio“, kurz 2D:4D, in aller Munde. Ist der Ringfinger deutlich länger als der Zeigefinger, so ist der Handeigner besonders „männlich“ und alles, was dazugehört. Der Entwicklungsbiologe John Manning von der University of Central Lancashire entdeckte 1998, dass Männer mit relativ langen Ringfingern besonders zeugungsfähig sind und deutlich mehr Spermien produzieren als Männer, deren Ringfinger gleich lang wie der Zeigefinger ist. Bei Frauen verhielt es sich genau umgekehrt. Kurze Ringfinger zeugten von besonderer Fruchtbarkeit.[ii]
Seither wurden zahlreiche Studien über derartige Zusammenhänge erstellt. So sollen Frauen mit dominantem Ringfinger über eine höhere Durchsetzungskraft verfügen und seltener zu Neurosen neigen, aber auch nicht besonders kommunikativ sein. Männer mit dominantem Ringfinger sollen nicht nur besonders potent sein, sondern auch besonders talentiert für Sport. Auch ihnen attestiert Manning mangelnde Begabung für Kommunikation und Sprache. Die mangelnden kommunikativen Fähigkeiten von „Testosteronikern“ werden damit erklärt, dass der Hormonspiegel bereits im Mutterleib Einfluss auf die Entwicklung der beiden Gehirnhälften hat. Zuviel Testosteron könne zudem mit Migräne, Autismus, Stottern, Schizophrenie und Depressionen in Zusammenhang gebracht werden. So stellte Manning 2001 in einem Artikel fest, dass autistische Kinder häufig abnorm lange Ringfinger hätten.[iii] Zudem wird das „2nd to 4th digit ratio“ mittlerweile auch mit erhöhtem Herzinfarkt- und Brustkrebsrisiko in Verbindung gebracht, sowie mit Rechtschreibschwäche und Linkshändigkeit. Eine im Jahr 2006 veröffentlichte Studie will sogar einen Zusammenhang zwischen 2D:4D und der Anzahl von Sexpartnern herausgefunden haben. So soll der dominante Ringfinger der rechten Hand bei Männern von einem erhöhten „NSP“ („Number of Sexual Partners“) zeugen.[iv]
Überhaupt scheint die „Digitoskopie“, die mantische Fingerschau, momentan zu boomen. Im November 2005 berichtete der „New Scientist“, dass der Fingerabdruck Aufschluss über das Diabetesrisiko geben würde. Henry Kahn und sein Team vom „Center for Disease Control and Prevention“ in Atlanta verglichen bei 569 Holländern die Anzahl der Rillen von Daumen und kleinem Finger. Dabei stellten sie fest, dass Menschen mit Diabetes eine durchschnittliche Rillendifferenz von 8,3 zwischen Daumen und kleinem Finger aufwiesen, während dieser Wert für Menschen mit normaler Glukosetoleranz nur 6,4 betrug. Diesen Unterschied führten sie auf mangelnde Ernährung der Mutter oder Stress-Hormone während der Schwangerschaft zurück. Diese würden sich nicht nur auf die Organe des Fötus auswirken und somit auch auf die Entwicklung der Bauchspeicheldrüse, sondern gleichzeitig auch auf die Entwicklung der Finger. So könnte man anhand der Fingerabdrücke einfach das Diabetesrisiko prognostizieren.[v]
Eine moderne Form von Handlesen und Chirologie: Die 2D:4D Theorie
Hohes 2D:4D Ratio (links) und niedriges 2D:4D Ratio (rechts)
Hat also die Jahrtausende alte Lehre der Chiromantie doch einen wahren Kern? Oder wiederholen moderne Forscher lediglich dieselben Fehler wie die Handleser früherer Epochen? Folgt auf die Physiognomik der Antike, die Metoposkopie der Renaissance, die Phrenologie des 19. Jahrhunderts und die Konstitutionsbiologie des 20. Jahrhunderts nun endlich die wahre und richtige Menschenverzeichenung in Form der „Digitoskopie“? Oder sind 2D:4D und Konsorten abermals lediglich ephemere Zeitgeistmasken, welche noch ein paar Jahre für Wind und populistische Schlagzeilen sorgen werden, ehe sie wieder im Kuriositätenkabinett des Aberglaubens verschwinden? Betrachtet man die Studien näher, so ist eher letzteres naheliegend. Ihre empirische Basis ist äußerst mager. Die meisten Thesen wurden aufgrund der Untersuchung von lediglich 100 bis 200 Probanden gebildet. Zudem wurden die Zusammenhänge meist an zusätzliche Bedingungen geknüpft. Die höhere Sexpartner-Zahl bei dominantem Ringfinger wurde auf die rechte Hand eingeschränkt. Der dominante Ringfinger korrelierte nur dann mit männlicher Homosexualität, wenn die Probanden mehrere ältere Brüder hatten. Unter derartigen Voraussetzungen müssen sich entsprechend dem Gesetz der kleinen Zahlen zwangsläufig „signifikante Ergebnisse“ einstellen.
Im Vergleich mit den 2D:4D-Studien wirkt die empirische Basis der Konstitutionstypen von Kretschmer und Sheldon regelrecht gigantisch. Selbiges gilt für die „wissenschaftliche Handlesekunst“ des bekannten deutschen Chirologen Ernst Issberner-Haldane (1886 – 1966), der in den 1920er Jahren die Chirologie im deutschen Sprachraum wieder populär gemacht und sein Regelwerk im Lauf von fünfzig Jahren auf Basis von über 160.000 Handanalysen entwickelt hat.[vi] Etwa zeitgleich sammelte die Chiromantin Marianne Raschig Handabdrücke von über 2.500 prominenten Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Thomas Mann oder Bertold Brecht, um empirische Untersuchungen der Chirologie auch im Bereich der außergewöhnlichen Begabungen möglich zu machen.[vii] Ab den 1930er Jahren schaffte es die bekannte Sexualwissenschaftlerin und Ärztin Charlotte Wolff (1897 – 1986) sogar, das Handlesen eine Zeit lang wissenschaftlich zu etablieren. Auch aus Künstlerkreisen erhielt sie enormen Zuspruch und deutete die Hände großer Surrealisten wie Marcel Duchamp, André Breton, Max Ernst oder des Schriftstellers Aldous Huxley.[viii] Selbst die Messdaten der Phrenologen und die Erfahrungsarchive von so manchem Magier-Physiognomen können mit den paarhundert Probanden der 2D:4D-Mantik locker mithalten.
Vergleicht man die Fruchtwasserhormonspiegel-These von 2D:4D etwa mit der Keimblatt-Theorie Huters oder der Annahme einer Gehirn-Geist-Entsprechung bei den Phrenologen, so kann man nicht sagen, dass eine von ihnen schlüssiger, logischer oder wissenschaftlicher wäre als die anderen. So scheint die Prognose angebracht, dass man auch der Neo-Chiromantie der 2D:4D-Jünger früher oder später die Wissenschaftlichkeit absprechen wird, um Jahrzehnte später in einem neuen Körperteil die Antwort auf die Geschicke des Menschen zu suchen.
FUSSNOTEN
[i] Breedlove (2000), S. 455
[ii] Manning (1998), S. 3000ff
[iii] Manning (2001), S. 160ff
[iv] Hönekopp (2006), S. 30ff
[v] NewScientist.com – news service, 30. November 2005
[vi] eigene Aussage in Issberner-Haldane (1984), S. 20; Hauptwerk Issberner-Haldane (1982)
[vii] Raschig (1931)
[viii] Wolff (1992)
LITERATUR
Breedlove, Marc u.a. (2000) Finger-length ratios and sexual orientation in “Nature” Vol. 404, 30th March 2000, New York: Nature Publishing Group
Hönekopp, Johannes / Voracek, Martin / Manning, John T. (2006) 2nd to 4th digit ratio (2D:4D) and number of sex partners: Evidence for effects of prenatal testosterone in men in “Psychoneuroendocrinology” No. 31, Amsterdam: Elsevier Science
Issberner-Haldane, Ernst (1982) Die wissenschaftliche Handlesekunst – Chirosophie, Freiburg im Breisgau: Verlag Hermann Bauer
Issberner-Haldane, Ernst (1984) Die medizinische Hand- und Nagel-Diagnostik – Das Standardwerk der Chirologie, Freiburg im Breisgau: Verlag Hermann Bauer
Manning, John T. u.a. (1998) The ratio of 2nd to 4th digit length : a predictor of sperm numbers and levels of testosterone, LH and oestrogen in “Human Reproduction” vol. 13 no. 11, Oxford: Oxford University Press
Manning, John T. u.a. (2001) The 2nd to 4th digit ratio and autism in “Developmental medicine and child neurology” No. 43, London: Mac Keith Press
Raschig, Marianne (1931) Hand und Persönlichkeit – Einführung in das System der Handlehre, Hamburg: Gebrüder Enoch Verlag
Wolff, Charlotte (1992) Die Hand als Spiegel der Psyche – Wissenschaftliche Handdeutung, München: Otto Wilhelm Barth Verlag
SIE MÖCHTEN DIESEN ARTIKEL ZITIEREN? QUELLE:
Niederwieser, Christof (2016) Prognostik 02: Zeichendeutung, Trossingen: Zukunftsverlag, S. 94ff
Kommentar hinterlassen zu "Handlesen und 2D:4D Theorie"