Marxistisch-Leninistische Gesellschaftsprognostik

Eine Utopie ist nur so lange Utopie, bis sie Wirklichkeit geworden ist. Deshalb werden die Schriften von Karl Marx (1818 – 1883) und Friedrich Engels (1820 – 1895) heute nicht mehr als Utopie bezeichnet. Sie sind im Kommunismus Wirklichkeit geworden, auch wenn dieser mittlerweile bereits wieder großteils der Vergangenheit angehört. Dennoch ist gerade der Marxismus ein Paradebeispiel für die visionäre Prognostik der Moderne. Er entwarf eine Zukunftsvision von einer besseren Welt und einen Plan, wie diese bessere Welt zu erreichen wäre. Für Marx stand es mit historischer Gesetzmäßigkeit fest, dass die klassenlose Gesellschaft den Kapitalismus überwinden werde.

„Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation.“[i]

Dies veranlasste die kommenden Generationen von Genossen, den alten Meistern die Gabe außerordentlicher Voraussicht zu attestieren. So stellte 1967 der langjährige Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, auf dem VII. Parteitag der SED stolz fest,

„dass die marxistische Arbeiterbewegung in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte viele bedeutende Prognosen ausgearbeitet hat, deren Richtigkeit in der Praxis bewiesen wurde.“[ii]

Und so wie die alten Religionen und Völker den Worten ihrer Propheten gefolgt sind, auf in eine bessere Zukunft, so folgten auch die Arbeiterstaaten den Lehren ihrer Meister. Der neue Gott wurde „Dialektischer Materialismus“ genannt. Die Welt war nur mehr eine komplizierte Maschine aus Materie, und den Sozialingenieuren war es gelungen, das Regelwerk dieser Maschine zu entschlüsseln. Nicht nur die Natur gehorchte ehernen Gesetzen. Auch alle sozialen Prozesse ließen sich beliebig in Hebel und Zahnräder zerlegen und steuern. Die Prognosen von Marx, Engels und Lenin wurden als Berechnungsgrundlage für sämtliche Aktivitäten und Planungen der Oststaaten verwendet. Es stand mit wissenschaftlicher Gewissheit fest, dass die marxistisch-leninistische Gesellschaftsprognostik „von anerkannten objektiven Entwicklungs- und Strukturgesetzen der sozialistischen Gesellschaft ausgeht und wissenschaftliche Denkgesetze und Regeln für ihre Vorhersagen nutzt.“[iii]

Sämtliche ökonomischen Prozesse wurden der Planwirtschaft unterworfen. Die Wirkung von Plänen auf die Zukunft konnte mit naturwissenschaftlicher Exaktheit vorausberechnet werden. Nichts musste mehr dem Zufall überlassen werden. Alles konnte optimiert werden. Damit hatte man endlich die Opiumschwaden abergläubischer Irrlehren überwunden und konnte nun die Wahrheit objektiver Tatsachen erkennen. In einem „Kurs für junge Vertrauensleute“ heißt es:

„Prognosen als Ergebnis wissenschaftlicher Voraussicht haben also absolut nichts mit Weissagungen und Prophezeiungen aus dem Kaffeesatz oder aus den Karten zu tun. Sie sind auch keine Spekulation. Wissenschaftliche Prognosen gründen auf eine fundierte Kenntnis und auf die bewußte Ausnutzung der gesetzmäßigen Zusammenhänge in der Natur, der Technik, der Gesellschaft und im Denken.“[iv]

Mit welchen Methoden man gedachte, diese Prognosen, welche angeblich sogar das künftige Denken voraussagen können, zu bewerkstelligen, werden wir in den folgenden Prognostik-Bänden erfahren. Faktum bleibt, dass die marxistisch-leninistischen Gesellschaftsprognostik wohl doch nicht so unfehlbar war, wie von ihren Verfechtern proklamiert. Die ersten Jahrzehnte konnte man mit dem Fortschritt der kapitalistischen Staaten noch einigermaßen mithalten. Die Wirtschaft hier wie dort war vom Bauerntum geprägt und insofern noch einigermaßen überschaubar und planbar. Dann kamen die Rüstungsjahre des Zweiten Weltkriegs, in welchen auch die Weststaaten massiv auf Planwirtschaft setzten. In den 1950er Jahren begann im Kapitalismus das Wirtschaftswunder zu blühen, während der Aufschwung in den kommunistischen Ländern nur mühsam in Gang kam. Die Schere zwischen Ost und West klaffte immer mehr auseinander. Lediglich in der Kriegs- und Weltraumtechnik konnte man dem Westen scheinbar noch Parole bieten. Doch auch der Kalte Krieg vermochte den zunehmenden Rückstand der Arbeiterstaaten gegenüber dem Kapitalismus nicht zu verbergen.

Spätestens mit dem Zusammenbruch des Ostblocks im Herbst 1989 musste die marxistisch-leninistische Gesellschaftsprognostik Hammer und Sichel strecken. Die wissenschaftlich-objektiven Gesetze der Gesellschaft waren offenbar nur eine Illusion gewesen, eine Vision im Traum, eine Heiligenerscheinung, eine fahle Stimme von beschworenen Geistern.

FUSSNOTEN

[i] Marx (1867), S. 791
[ii] Berger (1968), S. 5
[iii] Berger (1968), S. 6
[iv] Berger (1968), S. 5

LITERATUR

Marx, Karl (1867) Das Kapital in der Ausgabe von (1968) Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 23: Berlin: Dietz Verlag

Berger, Rolf (1968) Der Blick in die Zukunft : Gedanken zur marxistisch-leninistischen Gesellschaftsprognose aus der Schriftenreihe „Kurs für junge Vertrauensleute, Berlin: Verlag Tribüne

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Niederwieser, Christof (2015) Prognostik 01: Zukunftsvisionen, Norderstedt: BoD – Books on Demand, S. 103ff

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