Die Vorhersage von Kriegen

Moderne Indikatoren und magische Archetypen

(…) Konzepte wie Modernisierung, Macht oder Vorurteile sind abstrakt, vielschichtig und am Ende ungreifbar. Sie werden nicht gemessen, sondern vielmehr durch das Festlegen der Messparameter erst konstruiert. Besonders offensichtlich wird dies beim Konstrukt der Intelligenz. Intelligenz ist am Ende nicht mehr als das, was Intelligenztests (zu) messen (vorgeben). Die Konzepte, mit welchen die Sozialwissenschaften arbeiten, haben also eine große Ähnlichkeit mit den Archetypen des magischen Weltbilds. Wie etwa die astrologischen Planeten-Archetypen bedeuten diese Konzepte vielzähliges gleichzeitig und doch nichts von all dem. Sie sind numinose Ballungspunkte, um welche sich zahllose Dinge ähnlicher Qualität scharen. Der Archetyp, das Konzept, das Konstrukt bleiben am Ende unsichtbar.

So stellt sich stets die Frage, ob sie existente Wesenheiten jenseits der direkten Beobachtbarkeit sind oder lediglich Hirngespinste. Fest steht, dass auch Hirngespinste dem Menschen von großer Nützlichkeit sein können, wenn es darum geht, Orientierung zu finden oder Entscheidungen zu treffen. Dies möchte ich anhand einiger Theorien zeigen, welche sich mit möglichen Indikatoren von Kriegen beschäftigen.

Die Vorhersage von Kriegen in Altertum und Renaissance

In früheren Zeiten dienten oft gewisse Konstellationen des Planeten Mars als Indikator für drohende Kriege. Eine derartige Beschreibung findet sich im Hauptwerk des bekannten Astronomen Johannes Kepler (1571 – 1630):

„So sieht man, wie im Kriegswesen Kämpfe, Schlachten, Einfälle, Angriffe, Eroberungen, Meutereien, Ausbrüche panischen Schreckens meistens zur Zeit der Aspekte von Mars und Merkur, Jupiter und Mars, Sonne und Mars, Saturn und Mars usw. auftreten.“[i]

In Mesopotamien wurden verschiedene Zeichen auf der Opferleber als Vorboten für Kriegsgeschicke betrachtet. Man glaubte, dass der allmächtige Sonnengott Samas diese Zeichen in die Leber einschreiben würde. Beispielsweise aus dem Zustand des Processus Caudatus, einem Teil der Leber, dessen Gestalt der eines „Daumens“ (Ubanu) ähnlich ist, wurde folgendes gelesen:

„Wenn die linke Seite des „Daumens“ in ihrer Mitte weggenommen ist: Du wirst die Besitzungen Deines Feindes einnehmen. Wenn die linke Seite des „Daumens“ in ihrer Basis weggenommen ist: Du wirst einen hohen Beamten Deines Feindes gefangennehmen. Wenn die rechte Seite des „Daumens“ losgerissen ist: Fall meines Heeres. Wenn die linke Seite des „Daumens“ losgerissen ist: Fall des feindlichen Heers.“[ii]

Man hat derartige Zusammenhänge ein paar Mal beobachtet und sie dann zu Deutungsregeln erhoben. Wenn etwa Kepler bei mehreren Gelegenheiten bemerkte, dass kriegerische Handlungen und Mars-Aspekte gleichzeitig auftraten, so stellte er eine Verbindung her. Trat dieses Zusammentreffen einige weitere Male auf, so betrachtete er die Hypothese als bestätigt, umso mehr als Mars als Planet des Krieges für eine derartige Deutung prädestiniert ist. Selbiges geschah in Babylon. Beobachteten die Barû mehrmals, dass das eigene Heer eine Niederlage erlitt, während der rechte „Daumen“ einer Opferleber losgerissen war, so gingen sie davon aus, dass auch künftig bei diesem Omen Kriegsverluste anstehen würden. Hat sich eine derartige Hypothese erst im Kopf des Menschen festgesetzt, so ist es kaum noch möglich, sie wieder herauszubekommen, selbst wenn sie sich in zahlreichen Fällen als unzutreffend herausstellt. Denn sowohl in der Astrologie, als auch in der Opferschau gibt es unzählige Zusatz- und Ergänzungsregeln, welche in solchen Fällen das Versagen erklären ohne dass die These aufgegeben werden muss. So kann der mildernde Einfluss eines anderen Planeten oder ein abschwächendes Zusatzzeichen auf der Leber herangezogen werden, um das Ausbleiben kriegerischer Handlungen zu erklären. Die These wird durch ein Immunisierungssystem gepanzert.

Diese Beispiele magischer Kriegszeichen zeigen jedenfalls, dass der Indikatorenbildung, dem Aufstellen von Korrespondenzregeln und der Operationalisierung von abstrakten Konzepten keine Grenzen gesetzt sind. Der moderne Mensch wird derartige Indikatoren als Hirngespinste abtun. Dennoch haben sie über viele Jahrhunderte hinweg offensichtlich den Kriterien der Reliabilität und der Validität entsprochen. Sind die Indikatoren der modernen Human- und Gesellschaftsprognostik am Ende ebenso beliebig?

Moderne Kriegsindikatoren

Auch heute gibt es zahlreiche Theorien darüber, welche Indikatoren einen bevorstehenden Krieg anzeigen. Die meisten dieser Erklärungen arbeiten mit dem abstrakten Konzept „Macht“. So wählte der englische Mathematiker Lewis Fry Richardson (1881 – 1953) Rüstungsniveau und Verteidigungsausgaben als fundamentale Machtindikatoren. Er ging davon aus, dass die Veränderungsrate des Rüstungsniveaus:

  1. in direktem Verhältnis zur wahrgenommenen Bedrohung durch den Gegner zunimmt.
  2. im direkten Verhältnis zur wahrgenommenen Sicherheit des eigenen Staates abnimmt.
  3. im direkten Verhältnis zum Grad der Feindseligkeit gegenüber dem Gegner aufgrund früherer Konflikte zunimmt („Groll-Faktor“).

Er entwarf darauf aufbauend ein Modell und überprüfte es mit empirischen Daten. So kam er 1939 zum rechnerischen Ergebnis, dass unmittelbar ein Weltkrieg bevorstünde.[iii] Eine solche Voraussage war zum damaligen Zeitpunkt sicherlich keine große Kunst mehr. Dennoch nährte sie die Hoffnung, dass Kriege aufgrund von Machtfaktoren prognostizierbar wären.

Die amerikanischen Politikwissenschaftler Nazli Choucri und Robert North verwendeten Bevölkerung, Ressourcen und Technologie als Hauptindikatoren bevorstehender Kriege. In ihrem Buch “Nations in Conflict” (1975) rückten sie dabei vor allem das Bevölkerungswachstum in den Vordergrund. Zudem gab es zahlreiche Machtverteilungsmodelle, welche von A. F. K. Organski und Jacek Kugler in ihrem Buch „The War Ledger“ (1980) in drei Gruppen zusammengefasst werden:[iv]

  1. Machtgleichgewichtstheorien: Eine gleichmäßige Verteilung von Macht sorgt für Frieden. Kräfte-Asymmetrien hingegen führen zu Krieg. Dabei ist die mächtigste Partei der wahrscheinlichste Angreifer.
  1. Theorien der Kollektiven Sicherheit: Frieden wird durch ungleichmäßige Verteidigung der Macht gesichert, wobei der Angreifer immer schwächer ist als die internationale Staatengemeinschaft. Hingegen ist eine ausgewogene Machtverteilung Indikator für Kriegsgefahr. Diese Theorien gehen von der Annahme aus, dass sich die internationale Staatengemeinschaft gegen jeden Angreifer verbünden und einander beistehen würde.
  1. Machtwechseltheorien: Kriege entstehen durch die unterschiedlichen Größen und Wachstumsraten von Staaten, indem kleinere Staaten mit hohen Wachstumsraten ihre Stellung im System durch Angriffe verbessern wollen. Der schwächere Staat, der sich aber im Wachstumsaufschwung befindet, ist der Angreifer.

Die dritte Gruppe der sogenannten „Power-Transition-Theories“ wird von Organski und Kugler vertreten. Als sie diese Theorien anhand von empirischen Daten überprüfen wollten, stießen sie jedoch auf ein unüberwindliches Problem. Wie soll man „Macht“ nun messen? Es gibt unzählige ökonomische, politische, technologische oder demographische Indikatoren, die man dafür heranziehen könnte. Repräsentativ für „Macht“ sind alle und keiner davon. Man könnte nun versuchen, aus all diesen Faktoren einen Index der Macht zu konstruieren. Indices sind konstruierte Zahlenwerte, welche durch das Zusammenfassen von einer Vielzahl von Indikatoren entstehen. Doch wirklich befriedigend wäre auch ein solcher Index nicht, denn jede Epoche hat andere Kriterien und Determinanten der Macht. Zudem wären wichtige Machtfaktoren wie etwa Technologie oder politische Stabilität trotz alledem kaum quantifizierbar. So behalfen sie sich mit dem Bruttosozialprodukt als alleinigen Indikator der Macht. Zwar räumen sie ein, dass dadurch viele wichtige Charakteristika der Macht unberücksichtigt bleiben, doch dafür sind BSP-Werte gut verfügbar und vergleichbar. Schließlich könnte man diesen Wert auch als in Geld quantifizierte Summe aller Machtfaktoren betrachten. Organski und Kugler definieren somit den Staat mit dem höchsten BSP als den mächtigsten, den dominanten Staat. Alle anderen Staaten, deren BSP mindestens 80 % dieser Höchstmarke erreichen, sind die unmittelbaren Konkurrenten und potentiellen Angreifer.[v]

Die Denkfallen der vermessenen Vermessung

Würde diese Theorie stimmen, so sähe die Kriegsprädisposition im frühen 21. Jahrhundert folgendermaßen aus: Die dominante Macht mit dem größten BSP und somit potentielles Angriffsziel wären die USA. Die potentiellen Angreifer wären China, Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Allein an diesem Beispiel tritt die Absurdität dieser Theorie offen zutage. Nicht viel besser sieht es für all die anderen Theorien aus, welche aus Macht oder Machtverteilung Kriege prognostizieren wollen. Sie kranken allesamt an denselben Problemen:

01. Messbarkeit von Konstrukten:
Die Machttheorien finden keine befriedigende Möglichkeit, das theoretische Konzept „Macht“ zu messen oder zu quantifizieren. Egal, welche Indikatoren und statistischen Werte sie auch dafür heranziehen, bleibt „Macht“ ein ungreifbares Konstrukt. Somit ist es am Ende irrelevant, ob man eine Theorie der Macht ersinnt, eine Theorie astrologischer Planetenstellungen oder eine Theorie von Opferlebermalen. Das Konstrukt bleibt Konstrukt, egal ob man diese numinose Wirkkraft nun „Macht“, „Mars“ oder „Samas“ nennt. Es handelt sich also auch bei den modernen Theorien der Macht im Grunde um Hirngespinste.

02. Das Gesetz der kleinen Zahlen:
Sie gehen nur von einer Handvoll historischer Fälle, meist aus der jüngeren Vergangenheit, aus und versuchen, darin wiederkehrende Muster zu finden. Es werden so lange vergleichende Recherchen angestellt und Statistiken durchsucht, bis man auf Ähnlichkeiten stößt. Gemäß dem Gesetz der kleinen Zahlen[vi] wird sich bei einer solchen Herangehensweise immer irgendein Muster, irgendeine Zahl oder Zahlenreihe finden, welche allen historischen Fällen gemein ist. Diese Begründung im Nachhinein wird als Indikator künftiger Kriege erklärt. Auch hier macht es im Grunde keinen Unterschied, ob man diese wiederkehrenden Muster nun in Planetenstellungen, Opferlebern oder Statistiken sucht. Man wird immer welche finden, die für die wenigen untersuchten Fälle signifikant sind. Dennoch kommt es dann in der Zukunft meist anders, als es diese Theorien wollen.

03. Historische Vergleichbarkeit:
Dies mag mitunter daran liegen, dass insbesondere die Anzahl der Kriege von weltpolitischer Tragweite begrenzt ist. Man hat nicht tausende Fälle, an denen man verlässliche Signifikanzen festmachen könnte. Die meisten Theorien basieren auf weniger als einem Dutzend von Kriegen. Zudem ist jeder Krieg einzigartig. Jede Auseinandersetzung hat andere Gründe und Hintergründe, andere Anlässe und Voraussetzungen, andere Rahmenbedingungen und Beziehungsgeflechte. Die Suche nach einem Generalindikator, insbesondere von prognostischem Wert, bleibt somit vergebens.

04. Ergebnis:
Diese drei Punkte führen dazu, dass alle magischen und modernen Theorien über Kriegsindikatoren manchmal stimmen und meistens nicht stimmen.

FUSSNOTEN
[i] Kepler (1619), S. 268
[ii] Leiderer (1990), S. 124
[iii] Casti (1992), S. 330ff
[iv] siehe Organski A.F.K. / Kugler, Jacek (1980)
[v] Casti (1992), S. 335ff
[vi] weitere Informationen zu diesem wichtigen Phänomen wird der vierte PROGNOSTIK-Band geben

LITERATUR

Casti, John L. (1992) Szenarien der Zukunft – Was Wissenschaftler über die Zukunft wissen können, Stuttgart: Klett-Cotta

Kepler, Johannes (1619) Harmonice Mundi in der deutschen Übersetzung von Max Caspar (1939) Weltharmonik, München-Berlin: Verlag R. Oldenbourg

Leiderer, Rosmarie (1990) Anatomie der Schafsleber im babylonischen Leberorakel – Eine makroskopisch-analytische Studie, München: W. Zuckschwerdt Verlag

Organski A.F.K. / Kugler, Jacek (1980) The War Ledger, Chicago: The University of Chicago Press

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Niederwieser, Christof (2016) Prognostik 02: Zeichendeutung, Trossingen: Zukunftsverlag, S. 156ff

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