Das Ifa-Orakel der Yoruba

Das Ikin-Ifa-Orakel der Yoruba in Afrika

Die Yoruba in Afrika

Eine der wohl umfassendsten Vertreter dieser Art ist das Ifa-Orakel der Yoruba. Die Yoruba sind eine große Volksgruppe, welche hauptsächlich im heutigen Nigeria angesiedelt ist. Sie waren eine der ersten Ethnien Afrikas, welche sich in großen Städten organisiert haben. Bereits im Mittelalter zählten ihre Metropolen bis zu 100.000 Einwohner. Dennoch haben sie bis zum Einfall der Araber vor 1.000 Jahren keine Schrift gekannt, sondern ihr Wissen ausschließlich mündlich tradiert. Ursprung und Zentrum der Yoruba wird in der Stadt Ifè angesiedelt. Dort soll der Legende nach Obatala, der Sohn des Weltschöpfers Olorun, die ersten Menschen aus Lehm erschaffen haben.[i] Zur Entstehung des Ifa-Orakels gibt es mehrere Legenden. Einige Yoruba sehen den zwielichtigen Trickser-Gott Eshu als Erfinder. Der historische Ursprung des Orakels ist aufgrund des Mangels an schriftlichen Quellen nicht mehr eruierbar. Sein Alter dürfte jedoch mindestens 700 – 800 Jahre betragen.

Die Ifa-Orakelverse

Lange Zeit wurde das Ifa-Wissen streng geheim gehalten. Die Yoruba-Wahrsager, die Babalawo („Vater des Hauses der Geheimnisse“), gaben die Ifa-Orakelgedichte nur untereinander weiter. Erst im Jahr 1965 beschloss ein Kreis von Orakelpriestern, einen Teil des Wissens für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies geschah, weil immer weniger junge Babalawo-Schüler in der Lage waren, die mehr als 3.000 Orakeltexte auswendig zu lernen. Die Priester befürchteten deshalb, dass das Ifa-Wissen im Strudel der Modernisierung des Landes verlorengehen würde. So befragten sie mehrfach das Ifa-Orakel und holten sich damit die Zustimmung der Götter (Orisha), bevor sie schließlich den beiden Ärzten Christoph Staewen und Friderun Schönberg einen großen Teil der Legenden diktierten.[ii]

Diese Legenden decken sämtliche Bereiche des Lebens ab. Sie berichten von den Erlebnissen der Götter und Menschen. Sie erzählen von Ungehorsamkeit, Zweifel, Habgier und Geiz, Lug und Trug, Hochmut, Undankbarkeit, menschlicher Schwäche oder auch von Rechtschaffenheit. Geschichten wie „Das sprechende Schaf“, „Die Suche nach einem nutzlosen Menschen“, „Die vertauschten Köpfe“ oder „Das Rückgrat eines Buckligen“ beschreiben allegorisch all die Probleme der Menschen. Jeder Orakeltext besteht aus einer Erzählung, einem Gedicht, welches diese Erzählung kurz und einprägsam zusammenfasst und den verschiedenen Interpretationen. Ein solches Set wird Odu genannt. Folgendes Odu zählt zu den kürzeren der Sammlung. Die Geschichte heißt „Orunmila besiegt böse Geister“:[iii]

Áluwe, Àluwè, Aluweluwe,
sie waren es,
die Ifa für Orunmila warfen,
als der Tod das Volk schlug.
Ifa gebot ihm zu opfern,
damit der Tod,
der das Volk zu Boden warf,
Orunmilas Haus verschone.
Er opferte.

Einst, in alten Zeiten, herrschten Wirren und Pestilenz in Ife, und als Orunmila eines Tages Ifa warf, antwortete ihm Ifa: „Du musst Opfer darbringen, damit Du und Deine Familie von aller Not verschont bleiben. Du sollst aber das Opfer neben einem Omo-Baum vollziehen. Danach wirst Du den Baum ersteigen und das Weitere beobachten.“ Orunmila tat so. Nach einiger Zeit sah er drei Geister kommen, die das Opfer verzehrten. Im Gespräch miteinander erwähnten sie aber ihre Namen, die niemand kannte: „Áluwe soll die Ziege nehmen. Àluwè soll die Ratte essen. Aluweluwe wird den Fisch nehmen.“ So erfuhr Orunmila ihre Namen. Als sie wieder gegangen waren, stieg er vom Baum herab und ging nach Hause.

Am folgenden Tag verwandelten sich die Geister in Menschen und kamen in die Stadt. Dort gingen sie geradewegs zu Orunmilas Haus, um ihn zu grüßen. Da rief Orunmila seinen Frauen zu: „Geht und bereitet Essen für Áluwe, Àluwè und Aluweluwe!“ Als sie hörten, dass Orunmila ihre Namen wusste, waren sie sehr verwundert. Sie fragten ihn, woher er sie denn kenne. Sie befürchteten nämlich, er könnte ihre Namen der ganzen Stadt mitteilen, und dann würde jedermann Macht über sie haben. Als sie fortgegangen waren, ging Orunmila auch sogleich mit seinen Schülern rund um die Stadt, und sie sangen: „Ich bestieg den Omo-Baum, und nun kenne ich Dich, Dich Áluwe! Ich bestieg den Omo-Baum, und nun kenne ich Dich, Dich Àluwè! Ich bestieg den Omo-Baum, und nun kenne ich Dich, Dich Aluweluwe! Ich bestieg den Omo-Baum, und nun kenne ich Euch alle!“

So befreite Orumila die Stadt von der Seuche, die durch die drei Geister hervorgerufen war; und er erfüllte die Weisung Ifas.

Ifa spricht:

A: „Wer auf dem Weg der Treue zu Ifa wandelt, wird von Ifa beschützt werden.“

B: „Du befindest Dich in Gefahr. Folge Ifas Weisungen, auch wenn sie seltsam erscheinen mögen. Wenn Dir geholfen ist, so hilf aber auch den anderen, die in der gleichen Schwierigkeit sind.“

Ähnlich wie bei den Geschichten der Bibel oder vielen anderen Überlieferungen gibt es immer eine moralische Botschaft. Zudem soll die Geschichte dem Fragestellenden auf sein konkretes Problem eine Antwort geben. Etwa 3.000 derartiger Texte müssen Babalawo-Schüler auswendig können bevor sie das Ifa-Orakel ausüben dürfen. Nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Anwärter schafft das bis zum Ende. Die Ausbildung beginnt im Alter von zehn bis zwölf Jahren. Die Schüler bleiben dann etwa zehn bis fünfzehn Jahre bei ihrem Meister bis sie ausreichend mit dem Ifa-Orakel vertraut sind. Dieser gibt ihnen nicht nur in mündlicher Form die Orakeltexte weiter, sondern lässt sie auch an den Wahrsagesitzungen teilhaben. Dort erlernen sie die Praxis der Interpretation und Beratung. Nach der Grundausbildung und der Initiation verbringen die Babalawo meist einige Jahre bei einem anderen Meister fern ihrer Heimat. Dort lernen sie weiter an den Ifa-Gedichten und verfeinern ihre Künste. Erst dann beginnen sie, Menschen mit dem Orakel weiszusagen.[iv]

Während Wahrsager in anderen Kulturen häufig ein Einzelgänger-Dasein führen, stehen die Babalawo Zeit ihres Lebens in Austausch miteinander. Alle Priester einer Stadt treffen sich ein Mal im Jahr zum mehrtägigen Ifa-Fest. Dort rezitieren sie einander alle Sprüche, die sie kennen, um den geheiligten Schatz der Überlieferungen am Leben zu erhalten. Dabei wird großen Wert darauf gelegt, dass kein Detail verloren geht oder verfälscht wird. Auf diese Weise konnte die unvorstellbare Masse an Geschichten viele Jahrhunderte überdauern ohne jemals in schriftlicher Form konserviert zu werden. Dieses Beispiel zeigt, dass auch reine Gedächtniskulturen umfassendes Wissen erhalten und von Generation zu Generation weitergeben können.[v]

Das Ifa-Ritual mit der Opélé-Kette

Das Ifa-Orakel spielt in der Tradition der Yoruba eine zentrale Rolle. Viele Yoruba suchen ihren Wahrsager in regelmäßigen Abständen von 3, 7 oder 13 Tagen auf, um den Rat der Götter und Ahnen zu empfangen. Auch vor allen wichtigen Ereignissen und Entscheidungen wie Reisen, Geschäftsabschlüssen, Geburten oder Hochzeiten wird das Orakel befragt. Die Wahrsage-Sitzung wird mit feierlichen Begrüßungen und Gesängen eingeleitet. Der Ratsuchende sagt dem Babalawo dabei kein Wort über die Frage, welche ihn zur Konsultation veranlasst. In der Standardversion wird das Orakel mit der Opélé-Kette durchgeführt. Auf dieser Ritualkette sind acht länglich-ovale, flache Baumsamen aufgefädelt. Diese acht Glieder sind jeweils gleich groß und lassen sich frei gegeneinander drehen. Ähnlich einer Muschel ist eine Seite offen und nach innen gebeult, die andere geschlossen und nach außen gebogen. Der Babalawo greift die Opélé genau in der Mitte und hält sie über seinen Kopf, sodass die zwei Enden der Kette mit jeweils vier Gliedern herabhängen. Dann wirft er die Kette zu Boden. Dabei kann jedes der acht Elemente entweder mit der offenen oder mit der geschlossenen Seite nach oben landen. Die beiden Vierergruppen der Kette können also jeweils in 16 verschiedenen Kombinationen zu liegen kommen. Diese 16 Möglichkeiten sind die Grundfiguren des Ifa und tragen jeweils den Namen der Gottheit, welcher sie unterstehen:

Muster der Opele-Kette vom Ifa-Orakel der Yoruba in Afrika

In dieser Aufstellung bezeichnet ein einfacher Strich die konkav, der zweifache Strich die konvex gelandeten Kettenglieder. Kombiniert man beide Viererreihen miteinander, so ergeben sich insgesamt 16×16 = 256 verschiedene Figurationen. Jeder dieser 256 Varianten ist mindestens ein Orakeltext, ein Odu zugeordnet. Die meisten Kombinationen korrelieren mit bis zu zwölf verschiedenen Geschichten, sodass es insgesamt über 3.000 Texte ergibt. Es ist dann Aufgabe des Babalawo, die passende Geschichte für den Klienten auszuwählen. Manchmal geschieht dies durch Intuition. Oft zieht er dazu ein einfaches Kolanuss-Orakel, genannt Ìbò, als Entscheidungsmaschine heran oder er wirft zur Verfeinerung das Ifa abermals. Ist er zu einem Entschluss gelangt, so trägt er das Odu vor. Er rezitiert das Gedicht, die Geschichte und weist auch auf die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten hin. In den allermeisten Fällen ist der Klient damit vollauf zufrieden. Obwohl dem Babalawo über Probleme und Fragestellung des Ratsuchenden gar nichts bekannt ist, soll das gewählte Odu die Situation des Klienten fast immer in erstaunlich passender Weise beschreiben. Manche Forscher erklären dies mit der starken Suggestivkraft, welche vom Orakel ausgeht. Genauso ist aber auch denkbar, dass der Babalawo mit psychologischem Geschick die Situation des Ratsuchenden erfasst und mit der passendsten Version des Odu-Texts verknüpft.

In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass der Klient mit der Antwort nicht zufrieden ist. Dann muss der Babalawo eruieren, ob ein anderes Odu der geworfenen Orakelkombination dem Problem des Ratsuchenden besser entspricht. Er rezitiert dann der Reihe nach die weiteren Odu-Texte, welche zur geworfenen Figur passen. Sollte der Klient immer noch unzufrieden sein, so legt der Babalawo das Zeichen einem seiner ältesten Amtsbrüder zur Deutung vor. Dies ist jedoch fast nie der Fall.

Wenn der Ratsuchende mit der Antwort zufrieden ist und das Orakel angenommen hat, dann teilt der Wahrsager ihm mit, welche Opfer zu erbringen sind, damit die Götter die Geschicke zum Guten wenden. Einerseits soll das Opfer einen vernachlässigten oder erzürnten Gott wieder versöhnen. Andererseits soll es auch einen Sinneswandel des Bittstellers demonstrieren. Denn die Opfer sind auf die Orakeltexte abgestimmt. So muss ein Geiziger ein besonders teures Tier opfern oder ein Hochmütiger Demutsgesten ausführen. Das Opfer erfüllt also auch eine erzieherische Funktion.[vi]

Das Orakelbrett mit Palmnusskernen

Die Ifa-Befragung mit der Opélé-Kette ist die Standardprozedur. Wenn es jedoch um sehr gewichtige Angelegenheiten geht, dann wird das Ikin-Ifa verwendet. Dieses ist die älteste und heiligste Form der Konsultation von Ifa. Das Orakel besteht aus 16 Palmnusskernen und einem kunstvoll mit Schnitzereien verzierten Wahrsagebrett. Der Babalawo nimmt die 16 Palmkerne in die linke Hand und versucht, sie mit einem Griff in die rechte Hand zu übernehmen. Meist gelingt dies nicht. Bleibt ein Palmkern in der linken Hand zurück, so macht er zwei Striche in das Holzmehl, mit welchem das Orakelbrett bestreut ist. Wenn zwei Kerne zurückbleiben, so macht er einen Strich. Wenn mehr oder weniger Palmnüsse als eine oder zwei zurückbleiben, dann ist der Vorgang ungültig. Es gibt zwei Mal vier Durchgänge, sodass am Ende ein Strichmuster mit 2×4 Zeichen herauskommt. Wie beim Kettenorakel gibt es also 16×16 = 256 mögliche Ergebnisse.

Das Ikin-Ifa-Orakel - Divination der Yoruba in Afrika

Das Ikin-Ifa Orakel der Yoruba: Wahrsagebrett mit Palmnusskernen

Die Religion der Yoruba ist heute auch in Amerika weit verbreitet. Yorubaland war seit dem 16. Jahrhundert das Zentrum des transatlantischen Sklavenhandels. So wurden zahlreiche Yoruba nach Amerika deportiert, wo sie ihre Religion in Form von Voodoo fortführten. Bis heute praktizieren Babalawo in Nord- und Lateinamerika. So ist eine Variation des Ifa-Orakels bis in die Neue Welt gelangt und erfreut sich unter dem Namen „Sixteen Cowries“ (sechszehn Kaurimuscheln) nach wie vor großer Beliebtheit. „Sixteen Cowries“ ist wesentlich unkomplizierter und kann im Gegensatz zu Ifa auch von Frauen bedient werden. Dabei werden 16 Kaurimuscheln auf ein flaches Strohgeflecht geworfen. Die Weissagung erfolgt aus der Anzahl der Muscheln, welche mit der Öffnung nach oben zu liegen kommen. So prophezeit etwa ein Wurf, bei dem alle Muscheln mit der Öffnung nach oben landen, besonderes Glück. Auch hier werden jeder Figur bestimmte Odu-Texte zugeordnet.[vii]

Ifa-Divination als Weltkulturerbe

Die Ifa-Divination der Yoruba zeigt jedenfalls, dass auch schriftlose Völker einen reichhaltigen geistigen Kulturschatz hervorbringen und über Jahrhunderte hinweg erhalten können. Die heiligen Odu-Texte sind sowohl von ihrem Umfang, als auch von ihren Inhalten her den anderen heiligen Schriften des Weltkulturerbes, der Bibel der Christen, dem Koran der Moslems oder den Veden der Hindus ebenbürtig. So wurde das Ifa-Orakel 2008 von der UNESCO in die „Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ aufgenommen.

FUSSNOTEN
[i] Jungraithmayr (1998), S. 177, 187; auch Lucas (1948)
[ii] Staewen (1982), S. 3f, 21, Iff
[iii] Staewen (1982), S. 32f
[iv] Abimbola (1977), S. 11ff
[v] Staewen (1982), S. 21
[vi] Staewen (1982), S. 10ff
[vii] Jungraithmayr (1998), S. 184

LITERATUR

Abimbola, Wande (1977) Ifa Divination Poetry, New York: NOK Publishers Ltd

Jungraithmayr, Herrmann (1998) Das Orakel von Ife – Reflexion über das verborgene Afrika, Stuttgart: Franz Steiner Verlag

Lucas, Olumide (1948) The Religion of the Yorubas, Lagos: C.M.S. Bookshop

Staewen, Christoph / Schönberg, Friderun (1982) Ifa – Das Wort der Götter – Orakeltexte der Yoruba in Nigeria, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag

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Niederwieser, Christof (2016) Prognostik 02: Zeichendeutung, Trossingen: Zukunftsverlag, S. 228ff

1 Kommentar zu "Das Ifa-Orakel der Yoruba"

  1. Lieber Christof, Deine Seminare, Deine Beratung und Deine Bücher schätze ich sehr und verfolge alle Deine Angebote mit großem Interesse. Dein Wissen und Deine Wissensvermittlung stellen eine große Bereicherung und Ergänzung zu meinen bisherigen astrologischen wie auch numerologischen Kenntnissen dar. Herzlichen Dank und herzliche Grüße, Susanne

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