Der verbrecherische Mensch von Cesare Lombroso

Im 19. Jahrhundert hielt die Darwinsche Evolutionstheorie auch in Psychologie und Psychiatrie Einzug. Plötzlich waren physiognomische Tier-Mensch-Vergleiche, wie sie Giambattista della Porta bereits 300 Jahre zuvor angestellt hatte, wieder in Diskussion. Der wohl einflussreichste Vertreter dieser Richtung war der italienische Psychiater Cesare Lombroso (1836 – 1909). An einem düsteren Dezembermorgen des Jahres 1870 war er gerade mit der Untersuchung des Schädels eines berühmten Mörders beschäftigt, als ihn plötzlich eine blitzartige Erleuchtung traf. Er erkannte Formen unserer affenartigen Urahnen wieder:

„Beim Anblick dieses Schädels schien es mir, als sähe ich plötzlich, wie eine weite Ebene erhellt von einem flammenden Himmel, das Problem der Natur des Verbrechers vor mir liegen – eines atavistischen Wesens, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschen und der niederen Tiere reproduziert. So erklärten sich anatomisch die riesigen Kiefer, die vorstehenden Wangenknochen, die Knochenwülste der Augenbrauen, die vereinzelten Handlinien, die Übergröße der Augenhöhlen, die henkelförmigen Ohren, wie sie bei Verbrechern, Wilden und Affen zu finden sind, die Schmerzunempfindlichkeit, die extreme Sehschärfe, die Tätowierungen, der übertriebene Müßiggang, die Vorliebe für Orgien und die verantwortungslose Sucht nach dem Bösen um des Bösen willen, der Wunsch, nicht nur das Leben des Opfers auszulöschen, sondern auch die Leiche zu verstümmeln, ihr Fleisch zu essen, und ihr Blut zu trinken.“[i]

Der verbrecherische Mensch war also ein Rückfall der Evolution in archaische Entwicklungsstadien unserer Vergangenheit. 1876 präsentierte er diese heftig umstrittene Theorie in seinem Werk „L’Uomo delinquente“ („Der verbrecherische Mensch“). Der Typus des geborenen Verbrechers war geboren. Der geborene Verbrecher ist ein Mensch, in dem Wesenzüge unserer prähistorischen und tierischen Vorfahren wieder zum Leben erwachen. Dieser Rückfall in frühere Entwicklungsstadien betrifft nicht nur seine Triebstruktur, sondern auch seine Anatomie. Lombroso nennt zahlreiche „Stigmata“ für einen derartigen Atavismus, unter anderem größere Dicke der Schädelknochen, Einfachheit der Nähte, gewaltige Entwicklung der Kiefer und Jochbögen, relativ lange Arme, fliehende Stirn, große Ohren, dichtes, krauses Haar, dunklere Haut oder fehlende Gefäßreaktion (Erröten).[ii] Doch nicht nur körperliche Merkmale aus der Zeit unserer affenähnlichen Vorfahren kennzeichnen den geborenen Verbrecher. Lombroso geht in der Evolution so weit zurück, bis er schließlich bei den Tieren landet und beispielsweise die Gesichts-Asymmetrien mancher Verbrecher mit Plattfischen vergleicht.

„L’Uomo delinquente“ war bald in aller Munde. Schnell wurden Stimmen laut, welche nach präventiver Verhaftung oder gar Liquidierung aller Menschen verlangten, welche die Stigmata des verbrecherischen Menschen tragen. Derartige Vorschläge scheiterten jedoch am Unwillen der Jurisprudenz, ihre Urteilsmacht an die Medizin abzutreten. Dennoch wurde Lombroso in zahlreichen Gerichtsverhandlungen als Sachverständiger herangezogen. So schreibt er über einen Fall, bei dem sich die Frage stellte, welcher von zwei Stiefsöhnen eine Frau umgebracht hat:

„Es war wirklich der vollkommenste Typ des geborenen Verbrechers: Kinnladen, Augenbrauenbogen und Jochbeine waren enorm, die Oberlippe dünn, die Schneidezähne riesig, der Kopf außergewöhnlich groß (1620 cbcm), die Sensibilität herabgesetzt (4,0 rechts; 2,0 links, Mancinismus sensorialis). Er wurde verurteilt“[iii]

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Kriminelle mit Verbrecher-Stigmata aus Lombrosos Lehrbuch

Wie viele Menschen durch derartige Gutachten unschuldig ums Leben kamen ist ungewiss. Fest steht, dass Lombrosos Theorien ein Irrtum waren. Beim Großteil seiner „Stigmata“ handelt es sich weder um Atavismen, noch um pathologische Erscheinungen, sondern lediglich um körperliche Extremwerte der Normalverteilungskurve. Zwar hat beispielsweise ein Affe durchschnittlich längere Arme als ein Mensch. Doch ist die Streuung der Einzelindividuen um diesen Durchschnittswert erheblich. Menschen mit langen Armen genetische Affenähnlichkeit zu unterstellen, ist daher ein Trugschluss.[iv] Zudem ist es reine Spekulation, dass das Auftreten eines Atavismus zwangsläufig mit gesteigerter Gewaltbereitschaft und Aggression einhergeht. Dies wurde bereits früh erkannt. Doch der Mythos vom geborenen Verbrecher blieb zu verführerisch. So dienten die Arbeiten Lombrosos noch Jahrzehnte nach ihrer Widerlegung den Nationalsozialisten als Grundlage ihrer eugenischen Massenvernichtungen. Und immer dann, wenn ein Haftentlassener eine grausame Mordtat begeht, geistert selbst im 21. Jahrhundert noch das populistische Märchen vom geborenen Verbrecher durch die Medien.

FUSSNOTEN
[i] Lombroso in Gould (1983), S. 130f
[ii] Lombroso (1894), S. 529f
[iii] Lombroso in Gould (1983), S. 146
[iv] Gould (1983), S. 135

LITERATUR

Gould, Stephen Jay (1983) Der falsch vermessene Mensch, Basel: Birkhäuser Verlag

Lombroso, Cesare (1894) Der Verbrecher (Homo delinquens) in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, Hamburg: Verlagsanstalt und Druckerei AG

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Niederwieser, Christof (2016) Prognostik 02: Zeichendeutung, Trossingen: Zukunftsverlag, S. 70ff

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